
Werkstatt für alternative Lebenskultur
Es begann mit dem Feuer.
Ok, vielleicht sollten wir nicht ganz von vorne beginnen. Man kann das ja auch woanders nachschlagen. Aber es sollte an dieser Stelle unterstrichen werden, dass das Bändigen des Feuers das war, was uns zum Menschen machte. Ohne Feuer hätten sich unser Gehirn und unsere Verdauung nicht so entwickelt, wie sie sich eben entwickelt haben. Ohne Feuer wären wir wahrscheinlich auch nicht die herrschende Art auf dem Planeten – ob das jetzt gut ist oder nicht, sei mal dahingestellt.
Weg von Spekulationen und direkt zum Essen:
Natürlich, jede:r muss essen. Jede:r möchte ein Dach über dem Kopf und einen vollen Bauch. Wenn der Bauch dann noch mit gutem Essen gefüllt ist, sind wir noch zufriedener, und wenn wir das auch noch bewusst wahrnehmen und wertschätzen, dann, ja dann erst genießen wir.
Architektur, Design und Kulinarik haben sehr viel gemein.
Einfach gesagt: wenn wir eine schöne und funktionale Umgebung haben wollen, versuchen wir diese zu entwerfen und realisieren. Wenn wir unserem Körper etwas Schmackhaftes und Gesundes zuführen wollen, komponieren wir Zutaten zu einem Gericht und bereiten dieses dann zu. Kochen ist damit der Gestaltung viel ähnlicher, als viele Leute denken. Die Basis beider Disziplinen bildet die Fähigkeit, „den Geschmack“ wertzuschätzen. In vielen Sprachen wird sogar das gleiche Wort, also „Geschmack“ im Kontext von Essen, Kunst, Musik oder Design verwendet.

Design wird immer stärker visuell wahrgenommen.
Dies geschieht nicht zuletzt auch durch den starken Einfluss von sozialen Medien. Trotzdem sollten wir uns bewusst sein, dass Design und die Wahrnehmung von Objekt und Raum viel mehr sind als nur das, was unser Auge erlebt. Zur Sinnlichkeit der Wahrnehmung gehören das haptische Erleben von Materialien und Oberflächen, Gerüche von Textilien, Holz oder Pflanzen – und eben auch der Einfluss unterschiedlicher Geometrien sowie Materialbeschaffenheiten auf die akustische Wahrnehmung des Raums im Gesamten. Unser Ohr kann Geometrie sowie eine räumliche Qualität schneller beurteilen als unser Auge und Gerüche sind in der Lage, starke emotionale Erinnerungen hervorzurufen. Dieses ganzheitliche Zusammenspiel unserer Sinne liegt leider nicht immer im Fokus der Gestaltung.

Beim Kochen und Essen können wir eine Befriedigung all unserer Sinne erleben.
Auch hier ist die zunehmend visuelle Fokussierung in sozialen Medien zu erkennen, ebenso ein wachsendes Interesse an Kochshows und wunderschön gestalteten Kochbüchern. Wo bleiben die anderen Sinne? Einen oft noch stärkeren Einfluss als der Geschmack hat der Geruch auf unsere Wahrnehmung von Essen. Einen weiteren Teil der Gesamterfahrung macht die Haptik aus. Unsere Hände, Lippen und die Zunge fühlen Hitze, Kälte, unterschiedliche Konsistenzen – oft ist gar unser ganzes Gesicht beteiligt, wenn wir den Dampf eines Ramen aufsteigen fühlen oder Champagner auf Nase und Wangen prickelt. Und natürlich hören wir das alles auch. Wir hören nicht nur laute Tischnachbarn oder schlechte Restaurantmusik. Um ein Beispiel zu nennen: Charles Spencer, Experte im Bereich der Gastrophysik, hat herausgefunden, dass wir Knusprigkeit stärker über unser Gehör wahrnehmen als über unseren Mund. Zur Überprüfung muss man nur mal Chips mit schalldämmenden Kopfhörern oder Ohrstöpsel essen. Das Erlebnis wird vom Knusperfaktor her absolut nicht befriedigend sein.
Der bewusste Genuss des Kochens ist relativ neu.
Während Essen und dessen Genuss schon immer ein komplexes Zusammenspiel unserer Sinne war, ist der bewusste Genuss eine eher neue Tendenz in unserer Gesellschaft, und steht sicher in Verbindung mit den sinnlich unbefriedigenden Formen der digitalen Arbeitswelt. Ähnliche Tendenzen sind im Aufschwung verschiedener klassischer Gewerke wiederzukennen. Im letzten Jahrzehnt ist eine kleine, aber stetig wachsende Gruppe junger Leute in den hippen Metropolen entstanden, welche die Arbeit als Tischler oder Schuhmacher der klassischen Büroarbeit bevorzugen. Leider ist die sinnliche Wertschätzung des Kochens noch nicht Mainstream, was auch an der harten Realität und dem angespannten Arbeitsklima in der Gastronomie liegen kann. Eine Romantisierung des Berufes fällt uns zudem aufgrund der verbreiteten Stereotype von schreienden und messerwerfenden Chefköchen schwer.

Auch die Küche zum Kochen ist relativ neu.
Otl Aicher, Grafiker, Küchengestalter und Koch, hat zu Beginn der 1980er Jahre eine Art Moodboard für den Küchenhersteller Bulthaup verfasst, später veröffentlicht unter dem Titel „Die Küche zum Kochen“. Tatsächlich sind bis heute zahlreiche Küchen sterile und reizlose Blöcke, die alles andere als Lust aufs Kochen machen. Aicher demonstriert, dass die wichtigen sozialen Strukturen, die im Küchenalltag stattfinden, nicht verstanden worden sind. Ebenso sind die meisten Küchen wie auch Küchengeräte unserer Geschichte Entwürfe von Männern, die nicht kochen. Von der Moderne bis heute wird das Zubereiten von Nahrung kaum als etwas Prestigereiches, Schönes oder Erfreuliches betrachtet, sondern als etwas, das gemacht werden muss – und das möglichst sauber und effizient. Dabei legte schon Aicher uns nahe, dass man, statt samstags sein Auto zu waschen, doch lieber mit der Familie Kirschen pflücken und Marmelade kochen sollte.

Klar ist: Wir suchen die sinnliche Befriedigung.
Doch welche Ausformungen nimmt diese Suche an?
Schon die Futuristen wollten uns durch Pillen oder Radiowellen ernähren, das Essen sollte Stunden dauern und reiner intellektueller Genuss sein. Seit den 1970ern verringert sich die Relevanz von klassisch französischer Haute Cuisine. Auch Nachfolgemodelle wie die molekulare Küche konnten sich nicht halten. Den Siegeszug der komplizierten Einfachheit hat dagegen die Nouvelle Cuisine mit ihrem Fokus auf Qualität und inzwischen auch Regionalität eingeleitet – um uns nun in die Zeit der Nova Regio zu überführen. Wir zelebrieren die karge Schönheit skandinavischer Natur und versuchen, in jeder einzelnen Erbse ganze Symphonien zu erschmecken. Welche Konsequenz haben Kochsendungen und die Glorifizierung von Küchenchefs? Die Anzahl an aufwendig produzierten Kochshows und Online-Tutorials ist exponentiell, aber mit welchem Effekt? Greift hier die klassische Theorie der ästhetischen Bildung – wenn wir beim Kochen zuschauen, steigern wir unsere Fähigkeiten und die Lust darauf und kochen schließlich selbst? Oder besteht die Gefahr, dass sich genau das Gegenteil einstellen könnte und all die Kochsendungen, die wunderschönen Kochbücher und Teigknetetutorials maximal als Placebo wirken? Als Ersatzbefriedigung, die wir uns holen, während wir mit einer Alubox voll geliefertem Thaicurry auf der Couch sitzen?
chmararosinke.com
Text: Maciej Chmara, chmara.rosinke
Foto Übersicht & Mitte: chmara.rosinke
Foto Übersicht & oben 1&2: Angela Lamprecht
Foto unten: Nadine Jochum