
Die Erzählung vom Individuum ist zu Ende
Die Leipziger Reporterin und
Autorin Greta Taubert ist Teil der POTENTIALe im Hier und Jetzt 2020. Weil in
diesem Jahr alles anders ist, laufen auch alle unsere Planungen ganz anders.
Und während wir noch darauf hofften, dass Greta Taubert die Landesgrenzen
übertreten darf, um hier mit uns einen Workshop umzusetzen, trafen wir sie zum
Interview. Und merken erneut, wie oft wir Grenzen begegnen und diese überqueren
können, ganz ohne einen Schritt vor unsere Haustür zu setzen. Dennoch: Es
genügt nicht, wenn im Innen viel passiert. Es braucht – früher oder später –
auch den Schritt nach außen. Greta Taubert hat ihn oft getan. Und darüber
geschrieben.
In deinem Buch „Apokalypse jetzt!“ beschreibst du, wie du dich auf eine neue Gesellschaft vorbereitest. Sollten wir das alle tun? Und wenn ja, warum?
Unsere Welt verändert sich mit dramatischer Geschwindigkeit. Das Klima erwärmt sich, Böden versteppen, Arten sterben. Wir wissen seit vielen Dekaden, dass wir eine neue Aussterbewelle auf unserer Erde erleben – und dass diese nicht von einem Kometen verursacht ist, sondern von uns selbst. Tief in uns drin glauben wir im globalen Norden, dass es uns zusteht, immer alles haben zu dürfen. Als wäre ein Auto, ein Schnitzel oder die Markenjeans ein Menschenrecht. Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir zuerst an unseren eigenen Komfort denken – und dann erst an andere.
Die ersten mahnenden Stimmen in den Siebziger Jahren wurden zwar gehört, trotzdem wurde das Wirtschaftssystem des ewigen Wachstums nicht hinterfragt. Mittlerweile steht eine ganze Generation von Fridays for Future und Extinction Rebellion auf der Straße und fordert eine radikale politische Wende. Auch sie wird gehört und hofiert – dennoch produziert die Wirtschaft munter weiter. Es ist wirklich zum Haareraufen. Trotzdem: Katastrophen bieten ein großes Lernpotential.
Welche Chance bietet uns die Möglichkeit, Utopien auszuprobieren?
Gerade entwickeln wir uns vom analogen Menschen zum digital vernetzten Wesen. Diese Form der ständigen Verbundenheit ermöglicht es uns, nicht nur isoliert zu denken und zu handeln. Die Erzählung vom Individuum (was ja wörtlich „Unteilbarkeit" bedeutet) ist zu Ende. Wir sind nicht unteilbar – ein Teil von uns ist immer woanders angedockt. Deswegen können globale Krisen auch global beantwortet werden. Wir stehen ihr nicht isoliert gegenüber, sondern als Netzwerk. Das macht mir Mut. Vielleicht haben wir hier die beste Chance, die große Einsamkeit des Kapitalismus zu überwinden, der uns immer einreden will: Du bist, was du hast.
Für meine Recherchen habe ich mich an viele utopische Orte begeben. Ich wollte herausfinden, wie man ohne Geld und ohne Konsum glücklich werden kann. Und ich habe herausgefunden, was mich wirklich glücklich macht: Zeit und Gemeinschaft. Im Grunde wissen wir das ja fast alle. Aber damit wir es in unserem Leben wirklich dauerhaft integrieren können, hilft kein Lesen und Diskutieren – da hilft nur Ausprobieren.
Wenn Utopien davon gekennzeichnet sind, dass kaum jemand sie tatsächlich lebt – auf welche Weise machen sie dann dennoch für uns alle Sinn?
Das Wort „Utopie“ feiert Konjunktur, weil es nach Reset-Knopf und Alles-anders-machen klingt. Am Ende ist es aber viel hilfreicher, wenn jeder ein bisschen was ausprobiert: seine Kleidung Secondhand kauft, auf einem solidarisch bewirtschafteten Feld das Gemüse bezieht, kein Auto mehr fährt, Lebensmittel unverpackt vom Markt holt, Solarpanele auf das Dach schraubt und so weiter. Der Druck ist zu groß, wenn wir glauben, alle Probleme auf einmal lösen zu müssen und zu perfekten Öko-Vorbildern zu werden. Dabei brennen nämlich viele aus. Es ist besser, wenn wir alle unperfekte Utopisten sind, als wenn ein paar wenige es voll ausreizen. Die Systemkräfte und die Widersprüche zwischen Wollen und Können sind sehr stark. Darum ist es sehr wichtig, auch die schönen Effekte des anderen Lebens zu spüren. Dann kann man sie dauerhaft integrieren – und weitere Schritte gehen.


Unser Wunsch, die Welt zu verbessern - spiegelt der unseren Wunsch, uns selbst stetig zu optimieren?
Das kommt darauf an. Wenn ich nur den Müll aus dem Wald sammle, um danach bei Instagram ein paar Likes einzusammeln, dann schon. Ansonsten finde ich es das edelste, was ein Mensch machen kann: sich an etwas zu beteiligen, dass größer als er oder sie selbst ist.
Worin liegt das Potential der „Zeitmillionäre“?
Zeitmillionäre fragen sich, was sie wirklich reich macht. Und die Antwort liegt eben tatsächlich selten auf dem Bankkonto oder in Schatzkästchen. Wenn man alte Menschen kurz vor ihrem Tod fragt, was sie in ihrem Leben anders gemacht hätten, dann antwortet niemand: „Ich hätte gern noch mehr Geld verdient.“ Die meisten sagen: mehr Zeit mit meinen liebsten Menschen verbracht, mehr für die Gemeinschaft getan, mehr erlebt, mehr gelacht, mehr geliebt. Interessanterweise ist genau das auch sehr umweltschonend. Und ich denke, dass ist der entscheidende Schlüssel, um Menschen von einem weniger materialistischen Leben zu überzeugen. Es ist nicht nur richtig, weniger zu haben. Es ermöglicht vor allem ein schöneres Sein.
Was brauchen wir noch ganz dringend? Außer Zeit?
Eine radikale Umverteilung: niemand darf mehr etwas erben und vererben.
Ein Grundeinkommen: jeder Mensch hat das Recht auf ein finanzielles Auskommen.
Ein Brutto-Inlands-Gemeinwohl statt eines Brutto-Inlands-Produkts.
Ein gesetzliches Verbot industrieller Massentierhaltung.
Autofreie Städte.
Ach, es braucht ganz viel.
Aber das ist alles im Prozess.
Was fehlt den Menschen in der Gesellschaft, wie sie derzeit ist – und wie können wir die Menschen erreichen bzw. neue Freude in ihnen wecken?
Ein Freund von mir, Daniel Häni, hat ein Buch mit dem sehr schönen Titel „Was fehlt, wenn alles da ist?“ geschrieben. Und ich glaube, dass sich jeder Mensch mal wirklich diese Frage stellen sollte. Wir leben doch gerade eine Utopie des absoluten Überflusses und überbordenden Wohlstandes. Wie will man den dick und fett gefressenen Gewinnern der Geschichte eine neue Welt verkaufen? Einen noch größeren Lolli hinhalten? Noch mehr Freiheiten anbieten?
Ich denke, dass Menschen einen Drang danach haben, sich weiterzuentwickeln, zu lernen, zu spielen. Und dass wir dieses durchaus unterhaltsame Spiel des Noch-mehr-Produzierens und Noch-mehr-Konsumierens jetzt allmählich verstanden haben. Es kickt nicht mehr so richtig.
Immer mehr Menschen gehen deshalb auf die Suche nach dem Sinn. Was übrigens via Lifestyle-Zeitschriften, Achtsamkeits-Retreats und Yoga-Tees auch schon wieder kapitalisiert wird. Und wir verstehen: Der Sinn besteht im Transformieren. Im Gestalten, im Eingreifen, im guten Handeln. Hier liegt der Sinn, nach dem wir suchen.
Greta Taubert schreibt unter anderem für Die Zeit, Vice und das SZ Magazin. Die diplomierte Journalistin und Alumna der Journalistischen Nachwuchsförderung reist mit Vorliebe dorthin, wo es unbequem, abseitig oder abenteuerlich wird und probiert Gesellschaftsutopien aus, um darüber zu schreiben. Im Eichborn-Verlag sind ihre Bücher "Apokalypse Jetzt" sowie "Im Club der Zeitmillionäre" erschienen. Ihre Arbeit ist mit Stipendien und Auszeichnungen bedacht worden.
greta-taubert.de
Interview: Magdalena Hopp
Portrait-Foto: Stephan Pramme
Postkarten-Motive: POTENTIALe Festival 2019, Installatin “Schön moralisch”